Ist ein bereits vorgeschädigtes Körperteil von einem Unfall betroffen, sehen die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) bei der Bemessung der Invaliditätsleistung eine Kürzung um die Vorinvalidität vor. Bei der Bemessung der Vorinvalidität sind Besonderheiten zu beachten.
Vorinvalidität
Für den Fall, dass ein bereits vorgeschädigtes Körperteil von einem Unfall betroffen ist, sieht Ziff. 2.1.2.2.3 AUB bei der Bemessung der Invaliditätsleistung eine Kürzung um die Vorinvalidität vor. Die Regelung in den AUB 2020 lautet:
„Eine Vorinvalidität besteht, wenn betroffene Körperteile oder Sinnesorgane schon vor dem Unfall dauerhaft beeinträchtigt waren. Sie wird nach Ziffer 2.1.2.2.1 und Ziffer 2.1.2.2.2 bemessen. Der Invaliditätsgrad mindert sich um diese Vorinvalidität.“
Frühere Bedingungen weichen sprachlich, aber nicht inhaltlich hiervon ab.
Grundsatz
Im 1. Schritt ist der Invaliditätsgrad einschließlich der Vorschädigung zu bemessen; erst in einem 2. Schritt ist hiervon die Vorinvalidität abzuziehen. Es darf also nicht der Fehler gemacht werden, nur die Erhöhung des Invaliditätsgrads, also die unfallbedingte Verschlim-merung des Gesundheitszustands, festzustellen, wie dies in der Praxis teilweise von Gutachtern gehandhabt wird.
Die Vorinvalidität wird nach den gleichen Kriterien wie die Invalidität bemessen. Da bei der Invaliditätsbemessung als Vergleichsmaßstab der Gesundheitszustand einer unversehrten Person gleichen Alters und Geschlechts heranzuziehen ist (vgl. Ziff. 2.1.2.2.2 AUB), führen alterstypische Beeinträchtigungen nicht zu einer Leistungsminderung (OLG Hamm r+s 2018, 34; OLG Celle VersR 2010, 205). Erleidet etwa eine ältere Person durch den Unfall den Riss einer Sehne, die bei älteren Personen typischerweise vorgeschädigt ist, kann dies nur dann als Vorinvalidität Berücksichtigung finden, wenn die Sehne stärker als bei älteren Personen gleichen Alters üblich vorgeschädigt war.
Krankheiten oder Gebrechen, die noch nicht zu einer Beeinträchtigung im Sinne einer Invalidität geführt hatten (sog. „stumme“ Vorschäden wie z.B. eine angerissene Sehne), bleiben unberücksichtigt (OLG Saarbrücken VersR 2020, 285; OLG Frankfurt a.M. VersR 2006, 828). Sie können allerdings, sofern sie bei der durch das Unfallereignis verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt haben, sich im Rahmen von Ziff. 3 AUB (Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen) leistungsmindernd auswirken (s.u.).
Um eine Vorinvalidität berücksichtigen zu können, muss diese an denselben Körperteilen, Sinnesorganen bzw. sonstigen Funktionen bestanden haben, die infolge des Unfalls beeinträchtigt sind. Soweit die Invalidität nach Maßgabe der Invaliditätsgradtabelle zu bewerten ist, kann sich also nur aus einer Vorschädigung der jeweiligen Körperglieder bzw. Sinnesorgane eine Anspruchsminderung ergeben. So kann etwa im Falle einer unfallbedingten Beinamputation nur eine Vorinvalidität dieses Beins Berücksichtigung finden, nicht aber etwa eine Vorschädigung des anderen Beins.
Die Beweislast für das Vorliegen einer Vorinvalidität liegt beim Versicherer. Unsicherheiten in Bezug auf den Umfang der Vorinvalidität gehen daher zu seinen Lasten.
Funktionsbeeinträchtigungen des Gelenks
Eine Besonderheit gilt beim Zusammentreffen einer unfallbedingten Invalidität eines Arms bei vorgeschädigtem Schultergelenk bzw. Beins bei vorgeschädigtem Hüftgelenk, wenn dieser Vorschaden zu einer Funktionseinschränkung des Arms bzw. Beins geführt hatte.
Beispiel: Der Versicherte konnte aufgrund eines Schulterschadens den Arm nur noch 90° anheben, wohingegen der Arm nach dem Unfall vollkommen funktionslos ist.
Die Problematik besteht darin, dass nach Ansicht des BGH die Schulter nicht zum Arm zählt (BGH VersR 2015, 617), sondern zum Torso, sodass der Vorschaden der Schulter bei der Bemessung des Armwerts prinzipiell nicht als Vorinvalidität in Abzug gebracht werden kann. Da dies letztlich widersinnig wäre, hat der BGH insoweit eine Ausnahme zugelassen und im Falle einer vorbestehenden Funktionseinschränkung des Gelenks diese im Zuge der Invaliditätsbemessung als berücksichtigungsfähig angesehen (BGH VersR 2017, 1386).
Paarige Sinnesorgane
Bei paarigen Sinnesorganen (Augen/Ohren) ist zu beachten, dass die Gliedertaxe auf die Funktionseinschränkung des einzelnen Auges bzw. des Gehörs auf einem Ohr abstellt. Daher kommt es auch im Rahmen der Bemessung einer Vorinvalidität auf das jeweils betroffene Einzelorgan an und nicht auf die Seh- oder Hörfähigkeit als solche (OLG Bran-denburg VersR 2007, 347; OLG Düsseldorf VersR 2005, 109). Unerheblich ist also, was mit der Seh- oder Hörfähigkeit des anderen Auges bzw. Ohrs ist.
Invalidität außerhalb der Invaliditätsgradtabelle
Auch bei einer Invalidität außerhalb der Invaliditätsgradtabelle, wenn also Torso oder Kopf betroffen sind, kann eine Vorschädigung nur berücksichtigt werden, sofern dasselbe Körperteil betroffen ist. Die Feststellung kann im Einzelfall schwierig sein, so z.B. im Falle einer vorgeschädigten Wirbelsäule, sofern durch den Unfall andere Wirbel betroffen sind als durch die zuvor bestehende Funktionseinschränkung. Abzustellen ist dabei auf die ver-schiedenen Funktionen der Wirbelsäule wie Stützfunktion, Beweglichkeit, Atmungsfunktion im Bereich des Brustkorbs etc.. Soweit die Vorinvalidität und die unfallbedingte Leistungseinschränkung die gleiche Funktion betreffen, ist erstere bei der Ermittlung des Invaliditätsgrads zu berücksichtigen.
Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen
War der Versicherte vor dem Unfall krank bzw. litt er unter einem Gebrechen, und hat dieser Zustand an den Unfallfolgen mitgewirkt, führt dies nach Ziff. 3 AUB zu einer Leis-tungskürzung. Die Regelung in den AUB lautet wie folgt:
„Treffen Unfallfolgen mit Krankheiten oder Gebrechen zusammen, gilt Folgendes: Ent-sprechend dem Umfang, in dem Krankheiten oder Gebrechen an der Gesundheitsschädigung oder ihren Folgen mitgewirkt haben (Mitwirkungsanteil), mindert sich bei den Leistungsarten Invaliditätsleistung und Unfallrente der Prozentsatz des Invaliditätsgrads. … Beträgt der Mitwirkungsanteil weniger als 25 %, nehmen wir keine Minderung vor.“
Frühere Bedingungen ab den Musterbedingungen 99 weichen sprachlich, aber nicht inhaltlich hiervon ab.
Mitwirkung von Krankheiten
Der Begriff der Krankheit setzt einen regelwidrigen Körperzustand voraus, der ärztlicher Behandlung bedarf (BGH VersR 2020, 414). Beispiele sind eine Diabeteserkrankung, die mitursächlich für die Amputation eines unfallgeschädigten Beines ist, oder ein verengter Rückenmarkskanal, der an einer unfallbedingten Lähmung mitgewirkt hat.
Problematisch ist die Einschätzung gesundheitlicher Einschränkungen, die nicht notwendig ärztlicher Behandlung bedürfen. So wird z.B. eine Hypersensibilität gegen bestimmte Medikamente bzw. Gifte überwiegend als Krankheit angesehen (vgl. OLG Frankfurt a.M. r+s 1996, 421; OLG Braunschweig VersR 1995, 823), nicht aber Allergien (OLG München VersR 2012, 895). Eine medikamentenbedingte Blutverdünnung ist ebenfalls keine Krankheit (OLG Köln VersR 2019, 1357).
Mitwirkung von Gebrechen
Der Begriff des Gebrechens wird definiert als dauernder abnormer Gesundheitszustand, der eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen (teilweise) nicht mehr zulässt (BGH VersR 2020, 414). Schwierig wird dies bei degenerativen Veränderungen wie z.B. Abnutzungserscheinungen von Bandscheiben, Meniskus oder Sehnen. Hier ist die Frage, ob ein Gebrechen vorliegt, anhand eines Vergleichs mit dem altersbedingten Normalzustand zu beantworten.
Sind Verschleißzustände etwa von Bandscheiben oder des Meniskus alterstypisch, rechtfertigt dies keinen Abzug nach Ziff. 3 AUB (BGH VersR 2020, 414).
Im Einzelfall ist darauf abzustellen, ob sich der körperliche Zustand des Versicherten nach medizinischen Gesichtspunkten noch in der Bandbreite des „Normalen“ bewegt, oder ob er bereits als krankhaft bzw. gebrechlich einzustufen ist. Dies kann im Einzelfall schwierig zu beurteilen sein. So treten etwa Defekte an der Rotatorenmanschette bei älteren Personen gehäuft, aber keineswegs stets auf und werden daher überwiegend als Gebrechen eingestuft (OLG Celle r+s 2018, 88; OLG Karlsruhe VersR 2017, 747; a.A. OLG Naumburg BeckRS 2016, 7495).
Mitwirkungsanteil
Damit Krankheiten oder Gebrechen anspruchsmindernd berücksichtigt werden können, müssen diese gemäß Ziff. 3.2 AUB bei der durch das Unfallereignis verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt haben, und zwar zu mindestens 25 %. Dies darf nicht mit den Fällen verwechselt werden, in denen nur das Unfallereignis selbst durch den krankhaften Zustand (mit-)verursacht wurde, z.B. der Versicherte infolge einer Gehbehinderung zu Fall kommt und sich dabei eine Kopfverletzung zuzieht. Dies führt zu keiner Anspruchsminderung!
Gemäß § 182 ist der Versicherer für die Mitursächlichkeit von Krankheiten und Gebrechen beweispflichtig. Folglich hat dieser die Voraussetzungen des Kürzungstatbestands ein-schließlich eines mindestens 25%igen Mitwirkungsanteils zu beweisen (BGH VersR 2012, 92).
Verhältnis von Vorinvalidität zu Krankheit/Gebrechen
Erfüllt ein beim Versicherten bestehendes Gebrechen zugleich die Voraussetzungen einer Vorinvalidität des unfallbedingt in seiner Funktion beeinträchtigten Körperteils, kann es zu einer Überschneidung von Ziff. 3 AUB mit Ziff. 2.1.2.2.3 AUB kommen. Insoweit hat der BGH entschieden, dass beide Regelungen nebeneinander zur Anwendung gelangen (BGH VersR 2017, 476). D.h., dass zunächst der Invaliditätsgrad um die Vorinvalidität zu kürzen und anschließend der Leistungsanspruch um den auf die Krankheit bzw. das Gebrechen entfallenden Anteil zu mindern ist. War etwa im Falle einer unfallbedingten Verletzung eines Halswirbels dieser degenerativ vorgeschädigt, und führte diese Vorinvalidität auch zu einer Erhöhung des Invaliditätsgrads, wird der Anspruch in zweierlei Hinsicht gemindert.
Quelle: Advisors up-to-date
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