Insbesondere in der Personenversicherung ist ein häufiger Streitpunkt zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer, ob letzterer bei Abschluss des Versicherungsvertrages alle gefahrerheblichen Umstände zutreffend angegeben hat. Häufig gibt der Versicherungsnehmer dabei an, dass er dem Versicherungsvermittler doch alle Fragen zutreffend beantwortet hätte, was sich allerdings so nicht in dem schriftlichen Antrag wiederfindet. Ein Rechtsstreit ist dann zumeist vorprogrammiert. Kommt ein Gericht dann zu dem Ergebnis, dass eine Anzeigepflichtverletzung des Versicherungsnehmers vorliegt, kann dies im schlechtesten Fall dazu führen, dass dieser rückwirkend seinen Versicherungsschutz verliert und, etwa in der Berufsunfähigkeitsversicherung oder Krankenversicherung, existenziell gefährdet ist.
Einführung
Um das „Rechtsprodukt“ Versicherung anbieten zu können, ist der Versicherer auf eine zuverlässige Risikoeinschätzung zwingend angewiesen. Andernfalls ist die Kalkulation einer risikoadäquaten Prämie nicht möglich. Um ihm das bei Abschluss des Vertrages zu ermöglichen, bestehen für den Versicherungsnehmer die Anzeigeobliegenheiten nach den §§ 19 ff. VVG, da er über das dem Versicherer angetragene Risiko am besten Bescheid weiß.
Die vorvertragliche Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers ist trotz der Formulierung in der amtlichen Überschrift zu § 19 VVG („Anzeigepflicht“ statt Anzeigeobliegenheit) nicht als echte Rechtspflicht, sondern als (gesetzliche) Obliegenheit zu verstehen deren Tatbestand Rechtsfolgen im Verletzungsfall abschließend in den Vorschriften §§ 19 – 22 VVG geregelt sind. Damit ist zweierlei gemeint: Zum einen kommen – tatbestandlich – eine Anzeigepflicht und ihre Verletzung nur insoweit in Betracht, als sie von §§ 19, 20 VVG erfasst sind. Zum anderen sind die Rechtsfolgen abschließend in den §§ 19, 21, 22 VVG i.V.m. §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB geregelt, was den Rückgriff auf Schadensersatzansprüche nach §§ 280, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB, auf die Irrtumsanfechtung (§ 119 BGB) und den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) ausschließt.
Adressat der Anzeigepflicht
Das Gesetz spricht in § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG lediglich davon, dass „der Versicherungsnehmer“ bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung die ihm bekannten Gefahrumstände anzuzeigen hat. Gibt es daher mehrere Versicherungsnehmer trifft diese die Anzeigeobliegenheit gleichermaßen, wobei es genügt, wenn einer der Versicherungsnehmer die Anzeigeobliegenheit erfüllt (§ 19 Abs. 5 Satz 2 VVG).
Hat der Versicherungsnehmer die Beantwortung der Risikofragen einem Dritten überlassen kann ihm dies zuzurechnen sein. Kraft Gesetzes findet eine Zurechnung statt, wenn der Versicherungsnehmer sich bei Abschluss des Vertrages hat vertreten lassen (§ 20 VVG). Ebenso werden ihm Angaben des Versicherten bzw. der versicherten Person (§§ 47, 156, 193 Abs. 2 VVG) zugerechnet.
Darüber hinaus wird dem Versicherungsnehmer auch das „Erklärungsverhalten“ eines sogenannten Wissenserklärungsvertreters zugerechnet. Wissenserklärungsvertreter ist, wer vom Versicherungsnehmer mit der Erfüllung von dessen Obliegenheiten betraut ist und statt diesem Erklärungen abgibt. In Ausnahmefällen kann ein solcher Wissenserklärungsvertreter auch ein Versicherungsvertreter sein, der in einem Näheverhältnis zum Versicherungsnehmer steht und mit Einverständnis des Versicherungsnehmers Gesundheitsfragen aus eigenem Antrieb beantwortet.
Hiervon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen der Versicherungsnehmer ein von einem Dritten ausgefülltes oder vorbereitetes Formular selbst unterzeichnet. In diesem Fall gibt der Versicherungsnehmer bereits eine eigene Erklärung ab und eine Zurechnung über die Figur des Wissenserklärungsvertreter bedarf es dann nicht.
Voraussetzungen der Anzeigepflicht
Die Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers nach § 19 Abs. 1 VVG bezieht sich nur auf diesem bekannte Gefahrumstände, welche für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt abzuschließen erheblich sind und nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat.
Gefahrerheblichkeit
Die Frage, ob ein Umstand gefahrerheblich ist beurteilt sich allein nach den Risikoprüfungsgrundsätzen des konkreten Versicherers. Daher spielt es keine Rolle, ob sonst in dem Versicherungszweig oder bei einem anderen Versicherer dieser Umstand, der erfragt wurde, gefahrerheblich ist.
Sind also nach der Antragsfrage etwa bestimmte gesundheitliche Störungen anzuzeigen, kommt es nicht darauf an, ob diese sich später als völlig harmlos oder gar als irrtümlich empfunden oder diagnostiziert herausstellen . Ebenso spielt eine spätere ärztliche Bewertung keine Rolle. Auch wenn erfragte Umstände für sich allein noch nicht gefahrerheblich erscheinen, kann das durch die Häufigkeit der behandelten Krankheiten geprägte Gesamtbild des Gesundheitszustandes gefahrerheblich sein. Die Beurteilung der vom Versicherungsnehmer anzuzeigenden Umstände ist allein Sache des Versicherers. Von daher lassen sich drei Arten von gefahrerheblichen Umständen unterscheiden:
Zur Annahme der Gefahrerheblichkeit genügt indes nicht, dass der Gefahrumstand lediglich zu weitergehenden Nachforschungen des Versicherers geführt hätte; ebenso wenig genügt die bloße objektive Eignung des Gefahrumstandes, auf den Entschluss des Versicherers einzuwirken. Vielmehr muss der Umstand tatsächliche Auswirkungen auf den Vertragsschluss gehabt haben. Das bedeutet beispielsweise, dass für den Fall, dass der Versicherer überhaupt keine Risikoprüfung vornimmt, etwa im Rahmen einer vorläufigen Deckungszusage, der nicht angegebene Umstand nie gefahrerheblich ist. Beantragt bspw. ein Versicherungsnehmer eine Risikolebensversicherung und gewährt der Versicherer mit der Antragsstellung zugleich vorläufigen Deckungsschutz ist die Nichtangabe eines abgefragten Alkoholmissbrauchs im Hinblick auf die vorläufige Deckung, welche einen selbstständigen Versicherungsvertrag darstellt, nicht gefahrerheblich. Denn insoweit gewährt der Versicherer den Versicherungsschutz, ohne überhaupt eine Risikoprüfung vorzunehmen; anders verhält es sich freilich in Bezug auf den Hauptvertrag. Nur insoweit liegt eine Gefahrerheblichkeit vor.
Gleiches gilt nach zutreffender Auffassung, wenn die Antragsfrage des Versicherers auf einen Umstand zielt, welcher von Gesetzes wegen bei der Risikokalkulation nicht berücksichtigt werden darf. So dürfen bspw. nach § 20 Abs. 2 Satz 1 AGG Kosten im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Mutterschaft auf keinen Fall zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen führen. Sie dürfen folglich die Risikokalkulation in der Krankenversicherung in keiner Weise beeinflussen .
Frage des Versicherers in Textform
Ferner muss der Versicherer nach den Gefahrumständen in Textform gefragt haben.
Textformerfordernis
In Bezug auf das Frageerfordernis des Versicherers gilt das Textformerfordernis des § 126b BGB. Damit soll eine Informations- und Dokumentationsfunktion sichergestellt werden. Dies bedeutet, dass der Versicherer die Antragsfragen in verkörperte Form als elektronisches Dokument oder in Papierform dem Versicherungsnehmer zur Verfügung stellen muss. Hierfür ist erforderlich aber auch ausreichend, dass der Versicherungsnehmer bei der Beantwortung der Antragsfragen das Antragsformular (mit-) lesen kann, er es also verkörpert vor Augen hat oder dass das Formular dem Antragsteller nach Beantwortung der Antragsfragen zur Durchsicht vorgelegt wird (OLG Hamm, Beschl. v. 23.8.2021 – 20 U 123/21).
Frage des Versicherers
Bei den abgefragten Gefahrumständen muss es sich um solche handeln, nach denen der Versicherer fragt. Im Grundsatz müssen daher die Fragen vom Versicherer oder einem Versicherungsvertreter stammen. In der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt ist, ob und unter welchen Umständen Fragen ausreichend sind, die ein Makler auf einem von diesem entworfenen Maklerfragebogen „stellt“. Zum Teil wird hier vertreten, dass es sich bei solchen Fragen nicht um Fragen des Versicherers i.S.v. § 19 Abs. 1 VVG handelt (sog. Dornbracht-Entscheidung OLG Hamm, Urt. v. 03.11. 2010 − 20 U 38/10). Richtigerweise wird man darauf abstellen müssen, dass es für die Annahme einer „Frage des Versicherers“ ausreichend ist, wenn dem Versicherungsnehmer bewusst ist, dass der Versicherungsmakler die Frage nicht im eigenen, sondern im Interesse des Versicherers stellt (Pilz/Gramse, Staudinger/Halm/Wendt, VVG, 3. Aufl. 2022, § 19 Rn. 37).
In inhaltlicher Sicht sind dem Versicherer auch weit gefasste oder globale Antragsfragen möglich. Die Antragsfragen können zudem wertende Elemente, wie z.B. die Frage nach chronischen oder erheblichen Erkrankungen, enthalten. Nur wenn die Frage gänzlich und nicht eindeutig definierbar ist, liegt keine Frage im Sinne von § 19 Abs. 1 VVG (mehr) vor. An der Bestimmtheit der Antragsfrage fehlt es etwa bei der Frage des Versicherers „ob etwas vorgefallen sei“ oder ob der Versicherungsnehmer „gesund sei“ (Pilz/Gramse, Staudinger/Halm/Wendt, VVG, 3. Aufl. 2022, § 19 Rn. 48).
Kenntnis des Versicherungsnehmers
Die Anzeigepflicht trifft den Versicherungsnehmer nur, soweit er positive Kenntnis von dem erfragten gefahrerheblichen Umstand hat. Es reicht nicht aus, dass der Versicherungsnehmer den Gefahrumstand hätte kennen müssen. Nicht erforderlich ist es hingegen, dass der Versicherungsnehmer auch die Gefahrerheblichkeit des Umstandes kennt. Der Versicherungsnehmer muss daher auch Umstände angeben, wenn er sie selbst für unerheblich hält. So muss der Versicherungsnehmer daher ärztliche Diagnosen angeben, auch wenn der behandelnde Arzt dem Versicherungsnehmer gegenüber diese als belanglos dargestellt hat. Auch hier gilt, dass die Risikobeurteilung allein dem Versicherer obliegt.
Eine Kenntnis des Versicherungsnehmers von einer Erkrankung ist bereits dann anzunehmen, wenn er unter Beschwerden oder Schmerzen leidet. Es bedarf insoweit keiner Kenntnis des Versicherungsnehmers von einer ärztlichen Diagnose. Anders liegt der Fall dann, wenn die Erkrankung keine Symptomatik aufweist und der behandelnde Arzt dem Versicherungsnehmer weder eine Diagnose mitgeteilt hat noch weitere Behandlungen/Maßnahmen erfolgen.
Hat der Versicherungsnehmer einen ihm ursprünglich bekannten Umstand wieder vergessen gilt folgendes: Vergessene Umstände sind grundsätzlich nicht als bekannt nach § 19 Abs. 1 VVG anzusehen. Allerdings sind nach der Rechtsprechung auch solche Umstände als bekannt anzusehen, an welche der Versicherungsnehmer sich bei zumutbarer Anspannung des Gedächtnisses hätte erinnern können.
Hat der Versicherungsnehmer selbst keine Kenntnis von dem gefahrerheblichen Umstand muss er sich, kraft Gesetzes die Kenntnis seines Vertreters (§ 20 VVG) – ebenso die Kenntnis des Versicherten bzw. der versicherten Person (§§ 47, 156, 193 Abs. 2 VVG) – zurechnen lassen. Darüber hinaus wird dem Versicherungsnehmer die Kenntnis seines Wissenserklärungsvertreters analog § 166 BGB und seines Wissensvertreters gem. § 166 BGB zugerechnet. Als Wissensvertreter gilt, wer in nicht ganz untergeordneter Stellung vom Versicherungsnehmer zumindest in einem Teilbereich damit betraut ist, an dessen Stelle für das Versicherungsverhältnis rechtserhebliche Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und ggf. weiterzuleiten.
Zeitraum der Anzeigepflicht
Die Anzeigeobliegenheit muss der Versicherungsnehmer bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung, also regelmäßig seines Antrages, erfüllen. Tritt der gefahrerhebliche Umstand erst danach ein, muss er diesen Umstand nicht „spontan“ nachmelden. Möchte der Versicherer sichergehen, dass in dem Zeitraum zwischen der Willenserklärung des Versicherungsnehmers und seiner Annahme – etwa wegen einer lang andauernden Risikoprüfung – kein (neuer) gefahrerheblicher Umstand hinzugekommen ist, muss der Versicherer den Versicherungsnehmer erneut in Textform unter Beachtung aller weiteren Voraussetzungen fragen (§ 19 Abs. 1 Satz 2 VVG).
Anzeigeadressat
Die Anzeigepflicht erfüllt der Versicherungsnehmer gegenüber dem Versicherer. Macht der Versicherungsnehmer die Angaben gegenüber einem Versicherungsvertreter im Zusammenhang mit der Vertragsanbahnung, muss der Versicherer sich dies nach §§ 69 Abs. 1, 70 VVG zurechnen lassen. Der Versicherungsvertreter ist danach „Auge-und-Ohr“ des Versicherers. Dabei reicht es aus, wenn der Versicherungsnehmer die Angaben mündlich dem Versicherungsvertreter zur Kenntnis bringt. Leitet der Versicherungsvertreter diese Informationen nicht weiter, liegt dies allein in der Risikosphäre des Versicherers. Die Rechtsprechung macht hiervon nur dann eine Ausnahme, wenn der Versicherungsnehmer und der Versicherungsvertreter kollusiv zum Nachteil des Versicherers zusammenwirken oder der Versicherungsnehmer begründete Zweifel haben muss, dass sich der Versicherungsvertreter noch im Rahmen seiner Vertretungsmacht bewegt (evidenter Vollmachtsmissbrauch).
Anders liegt der Fall in denen der Versicherungsnehmer die Angaben nur gegenüber einem Versicherungsmakler tätig. Hier muss der Versicherer sich die Kenntnis des Versicherungsmaklers nur in Ausnahmefällen zurechnen lassen. Eine solche Ausnahme ist gegeben, wenn der Versicherer den Versicherungsmakler (ausnahmsweise) zur Entgegennahme von Erklärungen bevollmächtigt hat. Ferner wird eine Zurechnung dann begründet, wenn der Versicherer den Makler in seine Vertriebsorganisation fest eingebunden hat, dieser wirtschaftlich von ihm abhängig ist und der Makler keine eigene Produktauswahl treffen konnte oder wollte (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 19.07.2006 – – 5 W 138/06).
Praktische Probleme und Tipps
Macht der Versicherungsnehmer mündliche Angaben gegenüber dem Versicherungsvermittler, sollte er sehr genau darauf achten, dass sich diese auch im schriftlichen Antrag in identischer Form wiederfinden. Hierbei es auch hilfreich, wenn der Versicherungsnehmer im Nachgang zu seinem schriftlichen Antrag – aber noch vor Annahme durch den Versicherer – die weiteren Angaben nachmeldet. Ist der Versicherungsnehmer selbst sich über einzelne gefahrerhebliche Umstände nicht mehr „im Klaren“ sollte er auch dies dem Versicherer mitteilen und entsprechend im Rahmen der Beantwortung der Antragsfragen kenntlich machen.
Quelle: Advisors up-to-date
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